Jacques Derrida:
Maschinen Papier
Das Schreibmaschinenband und andere Antworten
Derrida wendet hier seine Interpretationskunst an, um in höchst aktuelle politische Auseinandersetzungen einzugreifen
„Maschinen Papier“ bindet, verbindet und archiviert verschiedene Artikel, Interviews und Reden, die der französische Philosophieprofessor Jacques Derrida in den ´90er Jahren veröffentlicht hat. Wird der (Ein)band halten und nicht nach dem ersten Lesen auseinanderfallen, durch die moderne Telekommunikation gar an den Rand gedrängt werden werden? Welche Seiten, hier also vor allem politische, hatte Derrida noch? Da es an dieser Stelle, vor allem im deutschsprachigen Raum, allzu viele leere Schreibmaschinenseiten gibt, hat der Passagen Verlag eine echte Lücke geschlossen.
Beginnen wir also zunächst mit „Die Maschine und der/das Papierlose“, natürlich eine Anspielung auf die sans papiers, die Bewegung zur Legalisierung illegal Eingewanderter, welche immer wieder Bestandteil seiner politischen Aktivitäten waren. Derrida geht das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven und verschiedenen Medien an (Les Carhiers de médiologie, Le Monde, L’Humanité). Was bedeutet es also papierlos zu sein, ohne offizielle Dokumente, jene Phantomglieder aus Papier, die heute mit Chips und biometrischen Daten versehen sind, welche Art von „Fortschritt“ drückt dies aus? Und: „Wenn wir uns für die ‚ohne Papiere‘ schlagen, wenn wir sie heute in ihrem Kampf unterstützen, fordern wir immer noch, dass man ihnen Papiere ausfertige. Wir müssen in dieser Logik bleiben“. Im übrigen seien wir angesichts der modernen Informationstechnologien (digitalisierte Photografie und genetische Fingerabdrücke) nicht längst schon alle „ohne Papiere“? Es ist leicht zu erkennen, der gewitzte Sprachakrobat verschiebt die Vokale, Konsonanten und ganze Wortfragmente in unnachahmlicher Weise zu völlig anderen Bedeutungen. Es spukt und raunt wie immer in seinen Werken, hier aber erstaunlich altersweise und ohne grantig zurück zu blicken.
Ein anderer, höchst bemerkenswerter Aufsatz, liefert „Meine ‚humanités‘ vom Sonntag“. Eine Anspielung auf den Eigennamen der Zeitung der KPF, aber auch auf die Menschheit, Mitmenschlichkeit, Humanität, der tatsächlich in der Sonntagsausgabe der L’Humanité von 1999 erschien. Hoppla, der alte libertäre Spaßvogel in einem poststalinistischen Blatt, hatte man dies nicht schon immer heimlich vermutet, werden nun jene „Intellektuellen“ murmeln, die nicht lesen können. Ja, Derrida lässt es sich nicht nehmen seine Bewunderung für jene auszudrücken, die in der Nachkriegszeit von Tür zu Tür eine Zeitung verkauften, in einem politischen Klima, in dem auch in Frankreich der eine Totalitarismus mit dem anderen gleichgesetzt wurde. Seine Hochachtung für dieses Kämpfertum ist unverändert, aber... „Es gab immer einen gewissen Spielraum zwischen einem gewissen Zentrum oder Zentralismus der Politik der Kommunistischen Partei (durch ihre gesamte Entwicklung hindurch) und den Kulturpolitiken (plurale oder weniger monolithische Praktiken) bestimmter Kommunisten. Dieser Spielraum war stets der Ort und die Chance einer Wandlung des politischen Dogmatismus“. Wir wollen das so in der Schwebe lassen und uns einem entwendeten Brief zuwenden, der aber seinen Schickungsort im Weisen Haus mit Sicherheit erreicht hat, und an das Ehepaar Clinton adressiert ist. Zusammen mit Frau Pierre Mendès France vom Institut P. M. France appelliert Derrida im Namen des Internationalen Schriftstellerparlaments an das amerikanische Präsidentenpaar, dem Aktivisten und Journalisten Mumia Abu-Jamal eine Revision seines Todesurteils zu ermöglichen. Der Brief blieb unbeantwortet! Für José Rainha von der brasilianischen Landarbeiterbewegung (MST), dem 1999 unter mysteriösen Umständen der Prozeß gemacht wurde, veröffentlichte er einen glühenden Aufruf in der L’Humanité vom 30. November, der fast prophetisch ein Ereignis verkündet, das kurz darauf eintritt. „Wir befinden uns am Beginn eines Welthandelsgipfels, von dem man noch nicht so recht weiß, welche Zukunft ihm beschieden sein wird, von dem ich jedoch zu wissen glaube, dass er – in einer neue Wege eröffnenden Weise – vor Ort bereits eine große Zahl von Männern, Frauen und Nichtregierungsorganisationen mobilisiert, die darüber beunruhigt sind, was man ihnen unter dem Namen und dem oft konfusen, mystifizierenden und von vornherein kontrollierten Begriff der ‚Globalisierung‘ bereitet“. José Rainha wurde in der Berufungsverhandlung freigesprochen, aber was war noch mal im Dezember 1999 in Seattle? Genau!
„Aber..., nein aber..., niemals..., und dennoch..., was die Medien betrifft“, welcher Definitionsversuch durch ihn selbst könnte fragmentarischer ausfallen als dieser? Nun lese, wer lesen kann, den Philosophen mit den wirren grauen Haaren, der nun in einem Brief an die Temps Modernes, anläßlich des 50-jährigen Jubiläums in einem Sonderheft, genüßlich Sartre paraphrasiert. Man denkt, die müssten sich nahe stehen? Lesen!
RezensentIn: Adi Quarti
Erschienen bei Passagen Verlag, Wien 2006, 49,00.
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