György Dalos:
1956
Der Aufstand in Ungarn
Dalos gibt aus neu erschlossenen Quellen ein überraschendes Bild der Vorgeschichte des Aufstands in Ungarn, seines Verlaufs und der Bedingungen seiners Scheiterns
Ende 1956 wurde Paul Sethe aus dem Herausgeberkreis der FAZ gedrängt, weil er in einem Reisebericht aus Ungarn wahrheitsgemäß berichtet hatte, dass er unter den Aufständischen auch ganze Kohorten alter Pfeilkreuzler wahrgenommen habe. Pfeilkreuzler - das waren die willigen Kollaborateure der Nazis gewesen, die ganz am Ende des Krieges noch "Reichsverweser" Horthy gestürzt hatten, unter anderem auch, um die letzte Judenverfolgung Eichmanns zu ermöglichen. Für die FAZ war die Befleckung des reinen Bildes des Volksaufstandes von 1956 unerträglich. Das Durcheinander der wirklichen Bewegung sollte nicht in Erscheinung treten. Man wünschte einen zweiten 17. Juni, Aufstand gegen sowjetische Unmenschlichkeit, Ruf nach dem Westen.
Diesem Wunsch leistet das Buch von György Dalos, "1956", keinen Vorschub. Er schildert die Vorgänge 1956 in Ungarn in ihrer unvermeidlichen Trübung. Zunächst umreißt er die Bedingungen der Möglichkeit. Wie konnte es zum Aufstand kommen? Einmal hebt er das polnische Vorbild hervor. Gomulka war dort, unmittelbar aus dem Knast, an die Regierung gekommen. Die Regierung wurde ausgewechselt, ohne Chruschtschow zu fragen. Zum andern hatte man Chruschtschows Kritik an Stalin zum XX. Parteitag breit rezipiert und noch breiter überschätzt als allgemeine Freiheitserklärung. Wie sich im Rückblick deutlich zeigt, war es Chruschtschow im Wesentlichen um die Absicherung der Funktionärs-Schicht gegangen, nicht etwa um die "aller", auch nicht die aller Parteimitglieder. Vor allem nicht um die Befreiung der sogenannten Blockstaaten des Warschauer Pakts.
Es begann mit der Rehabilitierung der Opfer der Schauprozesse. Der Nötigung gegenüber dem einheimischen Stalinisten Rakosi, zurückzutreten. Der Wiederaufnahme Nagys in Partei und Regierung. Vor allem mit der Zulassung einer breiten Aufklärungs-und Vorlesungstätigkeit, an der sich auch Georg Lukacs beteiligte. Das ganze von einer tolerierten Intellektuellenvereinigung ausgehend, Petöfi-Klub genannt.
Die Verkettung der weiteren Vorgänge schildert Dalos aus inzwischen neu zugänglich gewordenen Akten. Zum Sturm auf das Rundfunkgebäude war es gekommen, weil den Studenten die Publikation eines Forderungskatalogs verweigert worden war. Dem Sturm schlossen sich dann tatsächlich die verschiedensten Gruppen an, insofern kam es - für Stunden und Tage - zu einer wirklichen Aktionseinheit fast aller Schichten.
Dalos zeigt die Hilflosigkeit des Politbüros, dem zum großen Teil die eigenen Soldaten davonliefen. Erst als sie in ihrer Not dem polnischen Beispiel folgten und Imre Nagy, den eben noch Verfemten, an die Spitze der Regierung riefen, bekam die breite Bewegung kurzfristig Ausrichtung. Nagy, von Lukacs zeitlebens gerügt wegen eines allzu großen Pragmatismus, ließ sich von den Demonstrationen mehr treiben, als dass er selbst klare Perspektiven entwickelte. Er begann, mit den ehemals bürgerlichen Parteien zu verhandeln, die 1945 an der "Volksfront" teilgenommen hatten, stellte freie Wahlen in Aussicht und vor allem zunächst Neutralität, dann schließlich den offenen Austritt aus dem Warschauer Pakt.
Dalos verschweigt nicht die brutale Erstürmung des Hauptquartiers der Geheimpolizei, mit grausigsten Taten der Lynchjustiz. Dass die Sowjets, die erst zum allgemeinen Erstaunen abgezogen waren, wegen dieser Greuel wieder einmarschiert seien, widerlegt Dalos aus den Dokumenten. Es gelang der Chruschtschow-Clique, den nach Moskau gereisten Parteisekretär Kadar auf ihre Seite zu ziehen. Hatte er noch Tage zuvor bekräftigt, es handle sich keineswegs um Konterrevolution, sondern um den gerechten Aufstand des Volkes, so redete er nun den Russen nach dem Mund und gab sich zum Anforderer von "brüderlicher Hilfe" her - ohne solche Anforderung marschierten die Russen niemals ein, weder damals noch 1968 bei der Wiederholungstat in der CSSR. Von da an herrschte Kadar, zunächst mit Kerker und Todesurteil, ab ca. 1963 als Verkünder des "Gulaschkommunismus 2".
Besonderen Wert legt Dalos auf die lähmende Illusion der Hilfe aus dem Westen. Die diversen "Free-Europe"-Sender riefen pausenlos zum Kampf auf; rasch zeigte sich, dass die USA - im Wahlkampf - nicht daran dachten einzugreifen. Die Gebietsgrenzen - Ostblock/Westblock - waren damit anerkannt, jedenfalls als etwas, das militärische Gewalt in Zukunft nie mehr in Frage stellen sollte.
Vor allem richtet Dalos den Blick auf die gleichzeitig mit dem Ungarnaufstand verlaufende letzte offen imperialistische Aktion Englands, Frankreichs und Israels gegen Ägypten - wegen des Suezkanals. Auch hierzulande wurde merkwüdig leise und selten daran erinnert - zum fünfzigsten Jahrestag. Dabei erschütterte damals die Gleichzeitigkeit am meisten. Die Illusion der Zuschauer in Westdeutschland, im Lager der "Guten" zu stehen, wurde kurzfristig erschüttert, auf lange Sicht untergraben.
Wie der Mitkärmpfer Eörsi in seinen Gefängnisberichten zieht Dalos die Linien des unvermeidlichen Zerfallsprozesses der Bewegung nach. Eörsi schildert im Kleinen als Gefängnisgefährten Großbauern, die ihre Mühlen zurückwollten und katholische Priester auf der einen Seite, auf der anderen unentwegt kommunistische Vertreter einer Rätedemokratie Mindszenty auf der einen Seite, zeitweise allen Ernstes von westlichen Kreisen als Interims-Regierungschef vorgeschlagen, auf der anderen überzeugte Anhänger der sowjetischen Spielart von “sozialer Herrschaft”, auf der dritten verbitterte Intellektuelle: Dalos weist nach, dass ohne heftigste Auseinandersetzungen bis hin zum Bürgerkrieg auch ohne den russischen Wiedereinmarsch kein Aufbau einer neuen Ordnung möglich gewesen wäre.
Über die zumindest bis Januar 1957 andauernde Tätigkeit der Arbeiterräte, die Hannah Arendt als wichtigste Erscheinung des Aufstandes würdigte, hätte man gern mehr gehört. Dafür, wirklich überraschend, für den Zeitzeugen: die Darstellung der jugoslawischen Intrige. Chruschtschow hatte im Sommer mit Tito Frieden geschlossen. Jugoslawien hat - nach Dalos - mit der Regierung der UDSSR ausgemacht, Nagy und den seinigen Asyl zu gewähren. Damals sah man das arglos als selbstlose Hilfe an. Wie sich jetzt herausstellt, geschah es mit der offenen Absicht, die möglichen Führer der Volksbewegung aus dem Verkehr zu ziehen, von Informationen abzuschneiden und an Proklamationen zu hindern. Der Protest Titos nach der späteren Hinrichtung Nagys in Rumänien gerät nach diesen Informationen in ein sehr zweideutiges Licht.
Was blieb? Dalos selbst, inzwischen Mitherausgeber des FREITAG, erklärt in dieser Zeitschrift wie auch schon im Buch, dass 1956 inzwischen als zu links erschien, um als Anküpfungspunkt der neuen Bewegung nach 1989 zu dienen, die sich mehr oder weniger offen dem Kapitalismus pur zugewandt hatte. Vor den Jubiläumsfeiern hatte Dalos noch die Hoffnung geäußert, es komme zur Fünfzig-Jahr-Feier zu einem einheitlichen Gedenken aller Ungarn. Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Die großen Demonstrationen gegen die gegenwärtige ungarische Regierung und ihren lügenden Ministerpräsidenten scheinen sich inzwischen so entwickelt zu haben, dass die Demonstrantinnen und Demonstranten von 2006 sich als Nachfolger und Vollstrecker einer schon damals antikommunistischen "Revolution" sehen wollen.
Bei der Gelegenheit war zu erfahren, dass der rote Stern, Abzeichen nicht nur der SU, sondern auch des Kommunismus, in Ungarn inzwischen verboten ist. Heißt das, Dalos zufolge, dass alles umsonst war, was 1956 geschah? Dann müsste das inzwischen auch für die Commune 1871 gelten und selbst für die Oktoberrevolution 1917, an die in den letzten Tagen an manchen Orten erinnert wurde (russischer Oktober nach altem Kalender = inzwischen November). All diese Versuche bleiben - als Versuche. Versuche, die Sache doch einmal hinzukriegen, die "leicht zu verstehen, aber schwer zu machen ist" (Brecht) - und die als Projekt nicht wegzuschaffen sein wird.
RezensentIn: Fritz Güde
Erschienen bei C.H.Beck 2006, 19,40 Euro.
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