Biene Baumeister/ Zwi Negator:
Situationistische Revolutionstheorie. Eine Aneignung
Volume 1: Enchiridion / Volume 2: Organon
Die Situationistische Internationale stellte die moderne Gesellschaft radikal in Frage - das Buch bietet einen umfassenden Einblick in situationistische Theorie und Praxis
Die Situationistische Internationale (SI), die im Jahre 1957 gegründet wurde und sich im Jahre 1972 auflöste, versuchte sich an einer radikalen Infragestellung der modernen Gesellschaft. Vieles vom dem, was die SI erarbeitet hat, kann auch für jene interessant sein, die heute an einer Umwälzung der Gesellschaft interessiert sind. Das Buch “Situationistische Revolutionstheorie” hat das Ziel einer Einführung in die Theorie und Praxis der SI, es möchte die SI den Leserinnen und Lesern näher bringen. Wobei Theorie und Praxis bei der SI nicht voneinander zu trennen sind, denn die Theorie der SI war eine "Theorie der Praxis" und die Praxis der SI eine "Praxis der Theorie".
Im ersten Teil des Buches wird eine kurze Geschichte der SI geliefert. Hierbei wird deutlich, dass die SI sich von einer anfänglich eher künstlerisch dominierten Gruppe relativ schnell zu einer revolutionären Vereinigung weiterentwickelte. In diesem Teil des Buches wird auch auf die verschieden Fraktionen innerhalb der SI eingegangen.
Der zweite Teil des Buches befasst sich mit der Theorie der SI. Die SI schaffte es, Marx auf eine Weise neu zu lesen, so dass eine radikale Gesellschaftskritik hervorkam, die im Gegensatz zu dem damals vorherrschenden, staatsozialistisch geprägten Ideologien stand. Die SI entwickelte die Marxsche Fetischkritik weiter zu der, für das Denken der SI zentrale, Spektakelkritik.
Interessant in Hinsicht auf die Neuinterpretation Marx' ist außerdem, dass die SI den Begriff der Diktatur des Proletariats als eine “anti-staatliche Diktatur der radikalen Bedürfnisse” neu definierte. Zudem schaffte die SI es in ihrer Gesellschaftsanalyse aufzuzeigen, dass die moderne Gesellschaft immer noch eine Klassengesellschaft ist. Diese Erkenntnis ist gerade in Zeiten wichtig, in denen viele (auch linke) Soziologen eine Auflösung der Klassen im Spätkapitalismus propagieren. Außerdem findet sich hier eine spannende, leicht zu lesende (so leicht wie es bei dem Thema wohl geht) Einführung in die Marxsche Gesellschaftskritik.
Der Dritte Teil handelt von der Praxis der SI. Die SI versuchte in Praxis, eine Kritik am kapitalistischen Alltag zu üben. Hierbei benutzte sie größtenteils aus verschiedenen Sphären, hauptsächlich aus der Kunst, entwendete Mittel.
Danach wird auf die geschichtlichen Analysen der SI eingegangen. Für die SI war es sehr wichtig, die Kämpfe der Geschichte zu analysieren, um aus den Fehlern vergangener Bewegungen selbst zu lernen. Die SI befasste sich unter anderem mit der Russischen Revolution, dem Spanischen Bürgerkrieg und den Befreiungsbewegungen im Trikont.
Im letzten und schwächsten Teil des Buches üben die Autoren selbst Kritik an einigen Schwachstellen der SI. Erstens ignorierte die SI, trotz ihrem Versuch, den Alltag radikal zu kritisieren, die Geschlechterverhältnisse und den Sexismus. Dies zeigte sich an der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung innerhalb der SI. Zweitens ignorierte die SI in ihrer Geschichtsphilosophie den Zivilisationsbruch von Auschwitz. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die SI sich einerseits mit vielen verschiedenen Momenten der Geschichte auseinandergesetzt hatte, die Shoah aber andererseits vollkommen ignorierte.
Das Buch kann jedem empfohlen werden, der sich mit der Theorie, Geschichte und Praxis verschiedener linksradikaler Strömungen auseinandersetzen will.
Wer weiteres Interesse an der SI hat, kann auf der Seite http://www.theorie.org Textauszüge aus dem Buch lesen oder sich bei den Freunden und Freundinnen der klassenlosen Gesellschaft (http://mitglied.lycos.de/fdkg2003/) einige Schriften der SI bestellen. Man kann das Buch im Infoladen Freiburg ausleihen und dort auch die Originaltexte kaufen.
RezensentIn: Sebastian Meyler
Erschienen bei Schmetterling Verlag 2004, 10,00 Euro.
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