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Büchertipps / Rezensionen



Titelbild
Luciano Canfora:

Das Auge des Zeus
Deutsche Geschichtsschreibung zwischen Dummheit und Demagogie - Antwort an meine Kritiker

Es werden die näheren Umstände beschrieben, die zur Zurückweisung des Buches "Kurze Geschichte der Demokratie" durch den Wissenschaftsverlag Beck führten; mit einem Vorwort von Georg Fülberth




“Kurz gesagt sollte der Historiker dem Zeus Homers gleichen, der sein Auge bald auf dem Land der Thraker, bald auf dem der Mysier ruhen lässt”. Dieses Motto seiner Streitschrift hat Canfora dem Lukian entnommen, einem satirischen Schriftsteller der Antike. Nur scheinbar wird hier der Mythos des unparteiischen Historikers beschworen, der allen Seiten gleichermaßen gerecht werden will. Eher ist an Canforas Neigung zu denken, die verschiedenen Systeme des 20.Jahrhunderts als zumindest vergleichbar anzusehen.

In der Zeit des Kalten Kriegs war es mehr oder weniger verboten, den Blick über den Zaun zu werfen. Gerade das unternimmt Canfora. Nachdem alle allen ohne Unterlass versichern, dass der kalte Krieg vorbei ist, sollte das ohne großes Risiko möglich sein. Die Erfahrungen, die der Autor mit seiner “kurzen Geschichte der Demokratie” machte, zeigen, dass wir vielleicht nicht mehr in Zeiten des kalten Kriegs leben, aber des gewonnenen kalten Kriegs. In diesen scheint es verboten, die Besiegten - die sich kommunistisch verstehenden Regierungen der UDSSR und des späteren “Ostblocks” - nach ihren eigenen Voraussetzungen und Zielsetzungen zu betrachten. Canforas Buch wurde - lange nach der Übersetzung - von Chef-Lektor Felken zurückgewiesen, natürlich nicht offen wegen seiner Betrachtungsweise, aber wegen einer Liste von Fehlern, die das Buch - sie verstehen, Herr Kollege - wissenschaftlich einfach untragbar machen sollten. Der Papyrossa-Verlag hat das Buch inzwischen herausgebracht(siehe Besprechung hier unter “Büchertipps”).

In dem kleinen Büchlein, das der konkret-Verlag eben ediert hat, geht es nun um die Antwort auf die Canfora unterstellten Fehler. Alles hier aufzuzählen, würde zu weit führen. Klar, dass ein Werk, das 2500 Jahre behandelt und sich auf Quellen und Darstellungen in mindestens 5 Sprachen bezieht, immer etwas enthält, was andere besser zu wissen glauben und kritisieren. Auffällig ist nur, dass Wehler und fünf namentlich nicht genannte Mit-Kritiker Fehler überhaupt nur in der Darstellung der Zeit des zweiten Weltkriegs und der Sowjetunion finden. So wird nicht moniert die Behauptung, das Frauenwahlrecht habe sich in Europa erst in Folge der Oktoberrevolution 1917 verbreitet. Da ließe sich allerdings an Finnland erinnern. In diesem russischen Großfürstentum wurde das Frauenwahlrecht 1905/6 nach der ersten Revolution eingeführt. Natürlich ändert dieses Faktum am Gesamtgedankengang gar nichts. Von der Art sind aber sämtliche Gravamina - Beschwerden - Wehlers und der seinigen.

Herauszuheben unter den vielen kleinlichen Monierungen ist die Ankreidung der Behauptung Canforas, der Reichstag sei 1933 unter Mitwirkung der Nazis angezündet worden. Gerade an diesem Beispiel zeigt sich wie einmal durchgeboxte wissenschaftliche Ansichten nach gewisser Zeit zu unanfechtbaren Wahrheiten befördert werden. An diesen zu zweifeln, wird dann schnell “unwissenschaftlich”. Köhler hat kürzlich in einer heftigen Kontroverse im PEN-Club darauf gedrängt, die Diskussion noch einmal aufzunehmen. Es liegen übersehene Forschungsergebnisse und Gutachten vor, die eine Alleintäterchaft van der Lubbes bezweifeln lassen. Köhler wurde ungefähr so behandelt wie jetzt Canfora. Wobei für die Absichten der Nazis recht unerheblich ist, wer damals gezündet hat. Verhaftungslisten waren auf jeden Fall schon lange vorbereitet. Die Hindenburg am nächsten Tag vorgelegte Notverordnung ist wohl auch nicht im Morgengrauen zusammengeschmiert worden. Warum dann der Eifer des Verlags und Wehlers? Es gibt doch viele Fragen, die heute noch offen sind und gegenüber denen - ohne Majestätsbeleidigung der WISSENSCHAFT - so oder so argumentiert werden kann. Canfora stellt am Ende seiner Verteidigungsschrift eine Hypothese auf: Wenn Reichtstagsbrand einfach ein für die Nazis glücklicher Zufall war und wenn die Machtübertragung durch Hindenburg innerhalb des Systems der Weimarer Republik ein immerhin akzeptabler ”normaler” Vorgang, Hitler ein “seriöser” Kanzlerkandidat, dann lässt sich doch die ganze Geschichte ab 1933 ebenfalls normalisieren, ins Übliche eingemeinden.”Ein gleichsam unwiderstehlicher Drang, die eigene Geschichte (mit der man bis dahin die “ungemütliche “Büßerrolle hatte) neu zu denken, eine veränderte Lesart für sie zu beanspruchen und schließlich selbst aus ihren dunkelsten Phasen “zu retten, was zu retten ist“? Genau das findet seit einiger Zeit statt (Canfora, S.89).

Diese Einschätzung entspricht ziemlich genau der Darstellung Georg Fülberths, der dem Büchlein ein Vorwort voranschickt. Er hat kürzlich in einem Vortrag in Offenburg vom Übergang von der “verschämten” zur “unverschämten” Behandlung der Vergangenheit gesprochen (Abgedruckt in Kurzfassung in der nächsten STATTZEITUNG/Juni 06). Dass diese unbestreitbare Entwicklung jetzt schon - trotz eher abgelegener - historischer Werke behindert und mit Quengeleien belästigt, überrascht freilich doch. Der Vorgang zeigt, wie weit es gekommen ist.

RezensentIn: Fritz Güde

Erschienen bei KVV konkret 2006, 10,00 Euro.


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