Orhan Pamuk:
Schnee
Roman
Der Autor kehrt aus dem Frankfurter Exil ins Innere der Türkei zurück und stößt dort auf rätselhafte Ausformungen von Islamismus und Militärdiktatur
Dieses Buch, der Form nach ein Roman, ist zugleich eine politische Darstellung der heutigen Verhältnisse im Innern der Türkei.
Pamuk, der zahlreiche westliche Preise erhielt, wird von allen Seiten als Vorkämpfer des Abendlandes gefeiert, wie dem Zitat auf dem Klappentext aus der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG zu entnehmen ist: ”Noch stehen der Aufnahme der Türkei in die EU einige schwerwiegende Gründe entgegen. Ihre Aufnahme in den Kosmos des europäischen Romans ist dank Orhan Pamuk vollzogen.”
Nichts irreführender als diese Aussage, wenn sie bedeuten soll, dass wir in Pamuk einen Propheten des Westens zu sehen haben, der eines Tages die entferntesten islamischen Gegenden auf den rechten Weg bringen wird.
Worum geht es? Der Erzähler, vor Jahren aus politischen Gründen nach Frankfurt emigriert, kehrt -von der Regierung geduldet- in die Türkei zurück. Und da verschlägt es ihn in den unwirtlichsten Teil des Landes, nahe der russischen Grenze. Er hat von der Selbstmordepidemie junger muslimischer Mädchen gehört und will der Sache nachgehen. Zugleich trifft er dort und will wiedertreffen die ehemalige Geliebte, die jetzt ihrem Vater in der öden Stadt Kars das Haus führt und ihm beim Betrieb eines Hotels hilft.
Das eindrucksvollste ist der Schnee, der unaufhörlich fällt und der die verlassene Stadt Kars in eine Stimmung versetzt, in der es keine Zeit mehr gibt..
Politik und Politikerinnerungen setzen paradox an dieser Zeitlosigkeit an. Will Politik doch in der Regel vorwärtstreiben, verändern. Wie kann sie das aber in einer Ära des lautlosesten Stillstands, der farblöschenden Begrabenheit? Gerade, indem sie das Unbewegliche doch noch zu verrücken sucht, mit letzter Kraft und geschwollenen Schläfenadern. Anstrengung aus dem Stand, den Stein zu verrücken, der nicht weichen will
In dieser Lage trifft der Erzähler auf muslimische Studenten- und er erfährt den eigentlichen Grund des Islamismus. jedenfalls des dortigen. Er entspringt keineswegs unmittelbar der Armut- da hätte es ihn geben müssen, seit Anatolien bestand. Er entspringt noch weniger der Indoktrination- denn gerade der uralte Hodscha, den alle verehren, widersteht fast im Sinne Gandhis allen Versuchungen gewaltsamer Veränderung. Soweit es den jungen Männern möglich ist, sich zu äußern, ist Islamismus für sie Ausdruck der Verlassenheit, Aufruhr gegen die Kränkung durch den immer uneinholbaren Westen. Dass alle Schüsse und gewalttätigen Aktionen hier Ausdruckscharakter annehmen, ist unverkennbar. Der Zweck der Tat tritt weit zurück hinter dem Bekenntniswillen, dem Selbstdarstellungszwang in einer Welt, die nicht nur der Schnee, sondern auch die Vergessenheit unkenntlich macht. Das gilt eben so für die Mädchen, die sich am Kopftuh erhängen oder Schlaftabletten nehmen: sie legen Zeugnis ab gegen die inzwischen erstarrte Welt eines Atatürk, in der Kopftuch einfach nur noch Verstoß gegen die Regeln der Obrigkeit bedeutet.
Zentralsatz der Verlautbarung eines der Wortführer, Lapislazuli, an den Westen:
“Der Grund, warum wir hier Gott so sehr anhängen, ist nicht, wie die Menschen im Westen glauben, dass wir so arm sind, sondern dass wir mehr als andere wissen wollen ,was wir in dieser Welt hier zu suchen haben und wie es in der andern Welt zugehen wird.”(S.274)
Nachdem alle Transportwege in und von der Stadt Kars ungangbar geworden sind, kommt es anlässlich eines kleinen -patriotisch gemeinten- Theaterstücks zu einem Putsch nicht etwa der islamistisch gesonnenen Jungen, sondern des Militärs. Solang der Schnee liegt und jede Kommunikation unterbrochen ist, errichten die Ortsgewaltigen eine lächerlich präventive Diktatur gegen eine Revolution, die unauffindbar bleibt.. Es versteht sich ,dass der Konterrevolution- “wie’s der Brauch” viel mehr Bewohnerinnen und Bewohner des Orts zum Opfer fallen als den zum Attentat nur willigen, aber kaum entschlossenen.
Im Tauwetter löst sich alles auf: die als Aufständische verdächtigten verdrücken sich ins Gebirge, die Militärs bekommen von höherer Warte die Mitteilung, es sei noch nicht so weit.
Dieser Schluss - wie wenn ein Luftballon sich seines Inhalts entleert- unterstreicht noch einmal das Nichtige der militärisch und politisch gemeinten Handlungen- die doch aus dem Innersten der Verzweiflung über die gegebenen Zustände kommen.
Es blieb dem wirklich vorhandenen türkischen Militär vorbehalten, Pamuk wegen Beleidigung des Heeres durch seinen Roman vor Gericht zu stellen. In letzter Minute merkte jemand, dass diese Anklage in ihrer Lächerlichkeit genau bestätigte, was Pamuk dem Militär nachsagte- Leere und Aufgeblasenheit- und der Prozess wurde unter undeutlichem Gemurmel eingestellt.
Pamuk hat schon in einem früheren Roman(MEIN NAME IST ROT/dt/2001) über die Buchmalerei des Osmanischen Reichs zur Zeit der europäischen Renaissance, als Bellini den Sultan porträtierte, nachgewiesen, dass die Ablehnung des Perpektivischen durch die türkischen Maler , wie es die Venezianer ihnen vormachten, nicht herrührte von Unfähigkeit noch von Traditionsverstocktheit, sondern aus Überzeugung, nämlich der, dass im Perspektivismus die Laus so groß sein kann wie der Prophet, je nach Darstellung. Und aus Abscheu davor, dass alles gleich gültig und damit gleichgültig werden solle.
Indem Pamuk so zeigt, wie es Jahrhunderte lang, auch nach dem gerühmten Avicenna und seinen Zeitgenossen, einen argumentierenden, in sich begründeten Gegensatz gab zwischen der europäischen Entwicklung, die in der Gesamtaufklärung mündete, und dem eigenen orientalischen Denken, zeigt er auch, dass uns in der Türkei, im Iran und Irak nicht Rückständige entgegentreten, denen man endlich auf die Sprünge zu helfen hat, sondern solche- die in voller Kenntnis der philosophisch anderen Denkmöglichkeiten- an den eigenen festhalten. Und damit: wieso so das Jammern um einen islamischen Luther so leer läuft , dem etwa ein Bassam Tibi (“Leitkultur-TIBI”) sich in Augenblicken der Aufgelöstheit hingibt. Pamuk jedenfalls wird ihnen den neuen Luther unter keinen Umständen machen.
RezensentIn: Fritz Güde
Erschienen bei Hanser 2005, 25,90 Euro.
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