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Büchertipps / Rezensionen



Titelbild
Charlotte Roche:

Feuchtgebiete
Roman

Ein kleiner, aber tiefer Einblick in die Gedanken- und Erlebniswelt einer jungen Frau.


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Was ist es nur, das die Menschen an Direktheit und Offenheit gleichzeitig stört, abstößt und fasziniert? Sorgen in der heutigen Zeit Worte wie Muschi und Arschfick tatsächlich noch für Irritation? Oder ist es doch eher der Umstand, dass sie von einer jungen Frau gebraucht werden, und das auch noch in aller Öffentlichkeit und ohne jede falsche Scham?

Charlotte Roche ist selbst eine junge Frau von Ende 20, verheiratet und Mutter einer kleinen Tochter. Sie wuchs hier in Deutschland auf - also nicht in einem weit entfernten Land, wo es gesellschaftlich anerkannt oder gewünscht ist, dass sich Frauen derart ausdrücken. Nein, hier lebt sie. Und überrascht uns alle mit ihrer Buchheldin Helen aus „Feuchtgebiete“, die einen sehr experimentellen Umgang mit ihrem Körper zu pflegen scheint. Sie kennt jeden noch so verborgenen Winkel an und in sich, jede Reaktion, die der Körper hervorbringen kann und verfolgt mit großer Neugier alle Vorgänge der Lust, der Verdauung, der Wundheilung und der Sekretbildung in ihrem Leib. Eine große Vorliebe scheint zu sein, anderen von ihren Erkenntnissen und Experimenten zu erzählen und damit meist auch vor den Kopf zu stoßen, und im Anschluss ihre Reaktion für sich zu bewerten.

Soweit so gut. Das Schockierende dabei - denn bis zu diesem Punkt sind wohl auch schon etliche andere Menschen vorgedrungen - ist Helens offensiver und konfrontativer Umgang mit ihren Erkenntnissen, die sie ausposaunt und „an den Mann“ bringt. Angebracht oder nicht: Helen spricht es aus, oder sie zeigt es sogar. Sie vermittelt einen überaus reflektierten und lebenslustigen Eindruck, der einfach erfrischend wirken muss, auch wenn die Ekelgrenze bei so manchem mit Sicherheit auch überschritten wird.

Die Rahmengeschichte ist schnell erzählt und es kann sich während der Lektüre selbst ausgesucht werden, wie viel Gewicht ihr überhaupt beigemessen werden sollte.

Helen liegt im Krankenhaus. Sie ist „Arschpatientin“. Bei einer verunglückten Arschrasur zog sie sich einen Riss am After zu, der zu einer ausgewachsenen Analfissur wurde und operativ entfernt werden muss. Ihre Eltern sind geschieden, leben getrennt und jeweils mit neuen Partnern, was Helen nicht akzeptieren kann und deshalb bestmöglichst ignoriert. Im Krankenbett kommt ihr die Idee, dass sie ihre Situation nutzen könnte, um ihre von Sorgen um ihre kranke Tochter gepeinigten Eltern in ihrem Krankenzimmer wieder zu vereinen. Als ihr Plan an der Mitwirkung der anderen Personen zu scheitern droht und Helen aufgrund der Genesung entlassen werden soll, geht sie sogar so weit, sich selbst neu zu verletzen, um mehr Zeit herauszuschlagen. Aber, wie so oft im Leben, kommt alles anders als gedacht...

Die Autorin Charlotte Roche nutzt Helens Zeit im Krankenhaus zudem, um deren Gedankenwelt, Angewohnhein, Vorleiben und Abneigungen zu veranschaulichen. Ein großes Thema dabei ist der bestehende Hygienewahn, dem zum Beispiel Helens Mutter sehr nachhängt und den sie an ihre Tochter weitergeben wollte - weit gefehlt! Helen unternimmt so gut wie alles, um sich und der Welt zu beweisen, dass ein paar Bakterien niemanden umbringen, seien es die eigenen oder auch fremdproduzierte. Sie nimmt alles bereitwillig in sich auf und gibt auch gerne alles, was ihr Körper produziert, weiter. Da kommt schon mal ein selbstkonstruierter, gebrauchter und somit verbluteter Tampon im Fahrstuhl zum Einsatz, oder ein paar Pipitropfen auf dem Boden, die in Helens Vorstellung dann an den Schuhen der Ärzte und Pfleger durchs halbe Krankenhaus verteilt werden. Auch das Thema Sex, und so auch die Selbstbefriedigung, stellen für Helen kein Tabu dar. Alles kann man erleben, wenn man oder frau es einfordert. Sehr detailliert wird geschildert, was Helen Spaß macht, was sie aufgeilt und auch was sie aufgrund von weniger guten Erfahrungen eher ablehnt.

Helen stößt in vielen Gebieten in Domänen vor, die ansonsten scheinbar nur Männern vorbehalten sind. So hat sie es sich auch zum Ziel gemacht, eine gute „Freierin“ in Bordellen ihrer Stadt zu werden, um alle Erfahrungen auszukosten - im offenen Austausch mit Frauen, sowohl körperlicher als auch verbaler Art. Ein anderes Hobby stellt ihre Zucht von Avocado-Bäumchen dar, die sie hegt und pflegt (auch im Krankenhaus!), damit sie schöne glitschige Kerne produzieren, die Helen dann als natürliche Liebeskugeln nutzen kann.

Auch Helens emotionale Welt bleibt nicht vorenthalten. Ihre Verwirrung über die Geschehnisse innerhalb der Familie, die sie - immer getrennt voneinander - selten besuchen kommt, die laut Helens Erinnerungen sehr viel aufzuarbeiten hätte, dies aber mit aller Macht des Schweigens verhindern möchte. Niemand redet Klartext - da muss Helen ran, um zu klären und auszusprechen, koste es was es wolle! Konsequenzen sind zweitrangig.

Und dann gibt es da noch Robin, den netten Pfleger, der Helen ihre Zeit als Arschpatientin aufregender und schöner gestaltet. Auch wenn er zu Beginn nicht so recht weiß, wie er auf Helens Offensiven reagieren soll. Bereitwillig fotographiert er für sie ihre Arschwunde, damit Helen selbst auch sehen kann, was da an ihrem Körper herumgeschnippelt wurde. Schnell entsteht der Eindruck, dass zwischen ihnen sehr sanfte Gefühle aufkeimen, die vielleicht auch einen Ersatz für das Fehlen der familiären Bindung darstellen. Und die dann schließlich auch sehr viel stärker ausfallen, als dies zu Beginn absehbar ist.

Was veranlasste aber nun einige KritikerInnen, dieses Buch in Zusammenhang mit Emanzipation oder einem Feminismus zu setzen? Was hat das alles also mit Emanzipation zu tun?

Mich hat dieses Buch zu weitschweifigen Gedankengängen angeregt, auch wenn nicht alle davon direkt in der Erzählung thematisiert werden und vieles vielleicht auch einfach nur provozierend auf unsere wohlerzogene Seite der Persönlichkeit wirken soll. Ist das nun der neueste Umgang mit sich selbst, seinem Körper und seinen Bedürfnissen, der ja bekanntlich schon unzählige Wandlungen und Prägungen erfahren hat? Ja warum denn eigentlich nicht, habe ich mich gefragt. Aber sind die Männer denn auch schon so weit, zum Beispiel ohne Scham in der Öffentlichkeit über alle ihre Körperfunktionen zu sprechen? Und das nicht nur über die, die bei anderen Eindruck schinden könnten? Ich habe bisher nur wenige Menschen offen über ihren Stuhlgang reden hören, wenn sie nicht gerade beim Arzt sitzen, sondern vielleicht eher abends bei einer Flasche Wein mit Freunden. Helen ist da schon etwas weiter: Dinge, Vorgänge, die jeden von uns betreffen, müssen nicht zwangsläufig totgeschwiegen werden als gäbe es sie einfach nicht! Viele Männer posaunen ihre sexuellen Eskapaden hinaus, sei es in der Bahn, bei der Arbeit, in der Schule - kein offenes Ohr bleibt verschont. Weshalb sollte es dann Frevel sein, Ähnliches aus dem Mund einer jungen Frau zu hören? Wer oder was schreibt uns vor, welches Geschlecht sich wie zu verhalten hat, welche Erfahrungen gemacht werden dürfen, und wer über welche Eindrücke frei erzählen darf und wer nicht? Wer sagt, dass ein Frauenkörper immer frischgeduscht sein und nach Blumen duften muss? Das sind wir nicht! Wir sind nicht perfekt - nicht der Charakter und auch nicht unser Körper! Das obliegt allen menschlichen Wesen, und je weiter die Zeit fortschreitet, desto weniger können wir zu dem stehen, was wir sind. Organismen, die in sich arbeiten, die mit den Jahren zerfallen, abbauen, die Gerüche und Abfälle produzieren - und niemand ist davor gefeit. Frau muss es aber auch nicht sein, denn, wie Helen uns das ein Bisschen vor Augen hält, ist das alles nichts, wovor man sich fürchten, für was man sich schämen oder was frau gar täglich verschleiern müsste. Ein offener Umgang mit unserer „Imperfektheit“, mit unserer Menschlichkeit wäre angemessen und würde bestimmt einen großen Teil des systemspezifischen Leistungsdrucks, der sowieso herrscht, von uns nehmen. Ja, es hat einen Grund, weshalb Menschen Gerüche unterschiedlicher Art absondern, nicht nur, um anderen Menschen zu signalisieren: „Hey, ich habe seit vier Tagen nicht geduscht!“ Nein, Gerüche sind mittlerweile erwiesenermaßen z.B. für Partnerfindungen verantwortlich oder zumindest hilfreich. Auch Haare an Beinen und im Intimbereich hatten irgendwann einmal ihren Sinn und Nutzen, während es in der heutigen Zeit ein Zeichen von Ungepflegtheit ist. Viele finden es sogar eklig, wenn eine Frau es sich traut, im Sommer unterm Röckchen Haare zu tragen. Obszön! Dem Schönheitsideal nicht angepasst! Männer obliegen diesen Zwängen nicht: Brust- und kräftige Beinbehaarung gelten gemeinhin als Zeichen für uneingeschränkte Männlichkeit. Richtig! Stimmt, ist wohl von der Natur so beabsichtigt. Eine Revolution wäre demzufolge, wenn das gute alte Schamdreieck und leichte Beinbehaarung ein Zeichen für wunderbare Weiblichkeit wären, die in ihrem Naturzustand belassen werden könnte, weil es eben schön und normal ist, natürlich weiblich zu sein.

Helen schreitet der Emanzipationswelle voran, da sie sich zumindest darüber im Klaren zu sein scheint, dass eine Arschrasur von ihr VERLANGT wird, wenn sie Analsex praktizieren möchte. Sie weiß zumindest, dass das nicht ihr eigenes Empfinden ist, das sie dazu zwingt. Und sie erzählt darüber - Ja, ich habe Haare, auch hinten rum! Das habe ich noch nie von jemandem gehört, nichtmal im Gespräch mit der besten Freundin. Darüber spricht man nicht. Schade.

„Feuchtgebiete“ ist insgesamt also ein sehr lesenwertes Buch, da uns vor allem die Diskussionen nach der Veröffentlichung zeigen, dass wir trotz jahrhundertelanger Kämpfe, anscheinend immernoch in einem patriarchischen System leben. Denn meist wurde anstatt über den eigentlichen - eher banalen - Inhalt nur über die angeblichen Grenzüberschreitungen Roches geschrieben und gesprochen.

Tut euch einen Gefallen und macht euch selbst ein Bild vom Buch.

RezensentIn: Sabrina Melzer

Erschienen bei DuMont-Verlag 2008, 14,90 Euro. Sie können dieses Buch bei Amazon bestellen.


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