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Büchertipps / Rezensionen



Titelbild
Leo Hickman:

Fast nackt
Mein abenteuerlicher Versuch ethisch korrekt zu leben

Über den langen Weg zu einer ehtisch korrekten Lebensführung - Unterhaltsam und informativ erzählt


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Welches Buch wird mich wohl einmal so richtig beschäftigen und fesseln, und zwar nicht nur während der Lektüre, sondern auch noch im weiteren Verlauf meines Lebens? Diese Frage hat sich mir öfter in der Vergangenheit aufgedrängt - sie blieb lange unbeantwortet.

Bis ich „Fast nackt“ empfohlen bekam, von jemandem der wusste, dass ich mir gerne Gedanken über mich in meiner Umwelt, die Auswirkungen meines eigenen Verhaltens auf andere und deren Leben mache und auch an möglichst vielen Informationen über die Vorgänge und Zusammenhänge in unserer Gesellschaft interessiert bin. Ein Buch, das Themen aufgreift und beleuchtet, die mir zwar auch zuvor schon nahe gingen, mit denen ich mich allerdings nicht ständig auseinandersetzen konnte- oder wollte. Denn, ganz ehrlich: Macht man sich das Leben leichter, wenn man versucht, es „ethisch korrekt“ zu führen? Oder akzeptiert man weiterhin lieber das schlechte Gewissen, zumindest bei alltäglichen Dingen, von denen man ohnehin schon WEISS, dass sie eigentlich nicht mit der Ethik vereinbar sind, aber aus Faulheit und Routine heraus so gemacht werden, wie man es eben schon immer macht?

Für mich war dies bereits vor der Lektüre vergleichbar mit meiner persönlichen Problematik „Rauchen oder besser Nicht Rauchen?“. Es ist tatsächlich einfacher, sich weiterhin täglich seine Dosis Nikotin zu kaufen und zu Gemüte zu führen, als sich mit Abhängigkeit, Verzicht, Entzug und eventuell auch noch einer Niederlage auseinander zu setzen. Ganz zu schweigen davon, dass man sich ungern ernsthaft Gedanken darüber macht, was die gesundheitlichen Auswirkungen auf sich selbst und die Umwelt sind. Man könnte leicht ins Grübeln kommen, ängstlich werden und Beklemmungen kriegen, wenn man alleine schon darüber sinniert, was man alles besser, gesünder, global gesehen sozialer, umweltverträglicher etc. machen könnte. Aber einen Anfang zu finden und den ersten Schritt zu wagen ist doch tatsächlich der Mühe wert, wie es beispielsweise in diesem Buch mit ausreichend Witz und Selbstironie nachvollziehbar beschrieben wird.

Was Leo Hickman erkannt hatte war, dass er seinen Versuch nicht mit halben Sachen beginnen darf. Nicht mit einem „guten Vorsatz“, sondern mit einem festen Willen und reiflichen Vorüberlegungen, mit guten Beratern an der Seite, die sein Halbwissen weiter ausbauen und Alternativen zeigen. Trotz allem sollte man sich klar vor Augen halten, dass mehr Information und Aufklärung über Zusammenhänge und Vorgänge um uns herum und über die Auswirkungen unseres (Kauf-)Verhaltens die Sache nicht unbedingt einfacher gestalten. Je mehr man weiß und zu begreifen beginnt, desto mehr könnte man dazu neigen, die Flinte ins (Bio-)Korn zu werfen, um nicht vor lauter Grundsätzen und Dingen, die es unbedingt zu beachten gilt, verrückt zu werden.

Was ist besser bzw. wichtiger zu beachten: Ausschließlich Bio-Produkte zu kaufen oder vielleicht doch eher solche, die am wenigsten Lebensmittel-Kilometern zurück gelegt haben? Nur noch Fallobst zu essen? Oder am besten nur noch Fair Trade -Produkte in die Papiereinkaufstüte zu packen? Muss man sich mit allen Nachbarn und der Gemeinde verstehen und Kontakt pflegen? Für welche Hilfsorganisation sollte man spenden? Welcher Bank kann man guten Gewissens sein Geld anvertrauen? Welches ist die umweltverträglichste Reisemethode? Fragen über Fragen, die sich sicherlich vielen Menschen stellen und gar nicht so leicht zu beantworten sind...

Leo Hickman ist Journalist bei der linksliberalen britischen Tageszeitung „The Guardian“, Kopf bzw. Ernährer einer klassischen Kleinfamilie und wohnhaft in einem Londoner Vorort, als er mit seinem Projekt beginnt. Seine Vorarbeit besteht unter anderem darin, „ethisch korrektes Leben“ für sich zu definieren (Prioritäten setzen und schwierige Entscheidungen treffen, um für sich und die Umwelt eine positivere Kraft darzustellen, Gewohnheiten als Konsument zurückschrauben und versuchen, die Auswirkungen zu verstehen.) und eine Liste seiner Angewohnheiten im täglichen Leben möglichst ehrlich aufzustellen (und zu veröffentlichen). Schließlich startet er auf der Internetplattform seiner Zeitung einen Aufruf, der ihm Zuschriften aus aller Welt mit teils konstruktiver Kritik und Anregungen und teils lustigen, verurteilenden und manchmal auch desillusionierenden Kommentaren beschert.

Außerdem sucht und findet er drei Berater, die ihm auf unterschiedlichen Gebieten hilfreich und vor allem kritisch zur Seite stehen und seinen Horizont erweitern sollen.

Leo entscheidet, dass er „Nachhilfe“ mit fundiertem Hintergrundwissen in mindestens drei Bereichen brauchen wird: Bei seiner Ernährung, bei den Umweltschäden, für die er mitverantwortlich ist, und bei dem Wissen um die Macht der Großkonzerne sowie der daraus resultierenden Auswirkungen. Diese Hilfe bekommt er von einer Mitarbeiterin des Verbrauchermagazins „Ethical Consumer“, das seine Leser über die sozialen und umweltrelevanten Wirkungen von Produkten informiert, von dem Marketingleiter von „Friends of the earth“, einem internationalen Netzwerk von Umweltgruppen und von einem Aufsichtsratsmitglied der „Soil Association“ und Gründerin der „Planet Organic“-Bioläden.

Bereits zu Beginn des Experiments, als das ganze Haus mitsamt Einrichtung, Lebens- und Putzmitteln, Babypflegeprodukten, Kosmetika, Elektrogeräten, Städter-Garten und vielem mehr durch die Berater analysiert und auseinander genommen wird, ist nicht nur Leo und seiner Frau klar, dass sich ihr Leben von Grund auf anders gestalten wird, wenn sie an ihrem Vorhaben festhalten wollen. Der Aufbau des gesamten Textes gliedert sich in drei verschiedene Komponenten, die sich stets abwechseln und immer passend zum aktuellen Gegenstand der Betrachtung angeordnet sind: Leos Erzählungen, die Zuschriften auf seinen Aufruf und -mit einer Lupe gekennzeichnet- die Kommentare, Ratschläge und Informationen der drei Berater zum jeweiligen Thema. Und so entsteht eine unterhaltsame, informative, manchmal deprimierende (denn wo soll das denn alles enden??) aber auch lustige und auf alle Fälle lesens-, eventuell auch „nach-lebenswerte“ Geschichte, die jeden dazu anregt, diverse Teile seines Lebens oder zumindest seine Gewohnheiten zu hinterfragen und manches in Zukunft bewusster und überdachter anzugehen.

Es ist spannend, den „ethischen“ Werdegang von Leo und seiner Familie zu verfolgen, von Menschen mit ähnlichen Voraussetzungen, wie sie bei unzähligen anderen, bequemen und relativ gut situierten Bürgern eines europäischen Landes zu finden sind. Man erlebt mit ihnen das Eindringen in ihr ganz privates Leben und wie ihr Alltag erst mal richtig Kopf steht, den „Regenwurm-Komposterversuch“, einen Tag auf einer Londoner Müllkippe und einen Urlaub nach neuen Regeln. Ganz nebenbei begleitet man Leo bei seinem regen E-Mail-Kontakt mit Menschen aus aller Welt, die ihm und seiner Frau noch ungewöhnlichere Tipps zu verschiedenen Bereichen geben (z.B. Wie stelle ich selbst organische und abbaubare Tampons und Binden her?). Vieles davon mutet in unserem vernetzten und kapitalistisch geprägten Leben als kaum praktikabel an, anderes wiederum zeigt Möglichkeiten auf, wie man diesem weitgehend systemabhängigen Dasein ein Stück weit entfliehen kann. Das Schöne daran -und an diesem Buch- ist, dass man selbst entscheiden kann, was man für sich und das eigene Leben mitnimmt, was man bereit ist, an Prioritäten zu setzen und Konsequenzen zu tragen, über welche Lebensführung man weiterhin schmunzeln möchte und welche dann doch eine Überlegung fürs eigene Leben wert ist.

Dieses Buch ist eine empfehlenswerte Lektüre mit erträglichem Umfang (319 Seiten) für alle, die von sich aus bereit sind bewusster zu leben, sich mit unangenehmen Zusammenhängen zu befassen und über den Tellerrand des eigenen Lebens hinaus zu schauen - eine Fülle an interessanten Informationen, verpackt in einer netten Geschichte. Im Anhang des Buches finden sich Anregungen und Fragen, die man nutzen kann, um seinen eigenen Weg in die ethische Richtung einzuschlagen. Hier wird zudem auf einige Internetadresse verwiesen , die zu vielen weiteren informativen Quellen und Einrichtungen führen. Es lohnt sich, einen Blick zu riskieren, auch wenn sich dadurch längerfristig in so manchem Leben etwas ändern könnte.

RezensentIn: Sabrina Melzer

Erschienen bei Pendo Verlag 2006, 16,90 Euro. Sie können dieses Buch bei Amazon bestellen.


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